Die Kreuzwege der Psyche

Mirko Grave

Die Kreuzwege der PsycheDie Kreuzwege der Psyche - Buchcover

Mit diesem Buch gedenke ich der ca. zwei Dutzend Freundinnen, Freunden und Bekannten, welche diese Zeit nicht überlebt haben. Sie starben zwischen dem 19. und 45. Lebensjahr.

Für all jene – auch die Verstorbenen – welche versuchten, mir zu helfen und mir in schlechten Zeiten beistanden, ist es eine Danksagung.

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

  • 1. Vorgeschichte
  • 2. Die erste Krankheitsphase, unser ‚Squat‘ und die Reise nach Afrika
  • 3. Die Mainzer Straße – Krawalle im November 1990 in Berlin
  • 4. Der abenteuerliche Flair der Anarchie
  • 5. Über „feministische“ Schreibweisen und Ansichten, unser ethnologisches Seminar und die Zeit vor meiner Einweisung
  • 6. Mein Debüt in der Nervenklinik
  • 7. Die zweite Krankheitsphase
  • 8. Das Hexenhaus, eine Hausräumung und die Familie
  • 9. Gedanken
  • 10. Tödliche Schüsse in der Nervenarzt-Praxis; das arme, reiche London bzw. die Abschaffung der Arbeitslosigkeit
  • 11. Die Sanierung unseres Hauses, der Papstbesuch ’96, eine Fahrt nach Süddeutschland und die heimtückische Psychose

  • 12. Lissabon, die „Scharni“und die Schneiderinnen aus dem 1. Stock
  • 13. Über ‚Anuk‘, das Obdachlosen-Theater und mein Auszug aus dem ‚Haus‘
  • 14. Über neue Beziehungen und die Rolle in einem Kurzfilm – oder wie ich zu einer wertvollen Truhe kam, eine lebensrettende Operation überstand und die letzten zwei Aufenthalte im Krankenhaus erlebte
  • 15. Die verrückten Jahre der langsamen Genesung, eine Wohngemeinschaft mit Problem – Mädchen, der Steinkreis und die seltsame Macht eines Medikaments
  • 16. Essay über eine kaputte Welt und wie wir sie komplett und nachhaltig im Sinne der globalen Mehrheit verändern könnten
  • 17. Abschließende Versuche, psychotische und zeitlich nicht nachvollziehbare Erlebnisse zu schildern, mein Leben nach der Psychose, meine Familie, neue Freunde und Perspektiven

Einleitung

In Europa hat oder hatten schon mehr als ein Drittel aller Menschen selbst Erfahrung mit einem psychischen Leiden; der eine mehr, die andere weniger. Oft ist es nur eine immer wiederkehrende „Macke“ unserer Mitmenschen, ihr komischer Gefühlszustand oder andere Verhaltensauffälligkeiten, welche wir täglich wahrnehmen und dabei erkennen, dass die menschliche Psyche sehr facettenreich ist. Wo eine psychische Erkrankung jedoch wirklich vorliegt und wo nicht, ist oftmals eine umstrittene Frage. Dazu kommt, dass immer mehr Verhaltensweisen bzw. Symptome, die bisher für relativ normal gehalten wurden, als psychische Leiden in die heutigen medizinischen Standardwerke aufgenommen werden und demzufolge auch ärztlich behandelt werden müssen. Dadurch verändert sich natürlich die statistische Anzahl der psychisch „Kranken“ nach oben. Ich selbst würde die meisten „neuen Kranken“ aber eher als ziemlich normale Menschen betrachten, welche für ihren gesunden Körper und Geist kein gesundes Umfeld finden, weil sie gesellschaftlich benachteiligt sind; etwa durch Chancenungleichheit, Stress, Bildungsdefizite, Überarbeitet sein, Zugehörigkeit zu Minderheiten, ortsabhängige, vorherrschende Gesetze, Traditionen und Konflikte etc.. Oft spielen mehrere Faktoren eine Rolle, wenn Depressionen, Burnout, ADHS, Borderline und Co. diagnostiziert werden. Bei den (komplexeren) Krankheiten aus dem schizophrenen Formenkreis jedoch gibt es etwa 7 unterschiedliche Arten; allerdings sind sie kaum nachweisbar – weder in der DNS, noch im Kernspintomographen oder auf sonst eine Art. Neue Forschungsergebnisse aus Israel könnten jedoch dazu führen, dass einfache Bluttests eine Schizophrenie nachweisen können (ungewöhnlich hohe Menge an Dopamin). 1) Die bisher einzigen körperlichen Hinweise auf die Erkrankung zeigen das Verhalten und der seelische Zustand des Patienten. Diese Tests sollten vielleicht weltweit um das 20. Lebensjahr angewendet werden, wenn die Psychose i.d.R. zum ersten Mal auftaucht. Das Dumme dabei ist, dass man in dieser Zeit sowieso erkennt, wenn jemand allmählich in eine Psychose schlittert. Auslöser sind dabei oft extreme Situationen wie aufeinander folgende Verluste von z.B. Job, Partner, Wohnung, Freunde oder andere relevante, existenzielle Probleme. Weltweit haben etwa 1% aller Menschen schizophrene Veranlagungen (übrigens völlig gleich verteilt). Glücklicherweise wurden jedoch seit den 50ern und 60ern – zufällig – sogenannte Psychopharmaka gegen diese Krankheiten entdeckt, welche teils auch sehr gut helfen; sie sind aber kein Produkt gezielter Forschung. Mit dieser Autobiografie will ich jedoch auf die „schwierigen“ Fälle aufmerksam machen, wie ich einer war. Jeder kennt solche auffälligen Personen ebenfalls aus entsprechenden Situationen, in denen man allerdings meist nicht weiß, wie man angemessen reagieren soll oder was in solchen Menschen vorgehen mag. Das Buch schildert insbesondere die etwa 15-jährige Zeit meiner Erkrankung, also halbwegs gesunde aber auch psychotische Phasen, das Verhalten der Anderen aus meiner Sicht, Notsituationen, Verwahrlosung, Gesetzesbruch, widersinnige Aktionen, Mittellosigkeit usw.- sowie die spätere Genesung. Kurz erwähnt sei mein Sohn, welcher 1992 zur Welt kam. Er wurde von meiner damaligen Freundin – zu jener Zeit frischgebackene, enthusiastische „Feministin“ – an ein anderes Pärchen verkauft. Scheinbar passte ihr meine Krankheit damals diesbezüglich gut in den Kram. Die Psychose trug wohl auch ihren Teil dazu bei, dass ich mich damals auf sie einließ; sie soll allerdings Jahre später an einer Heroin-Überdosis gestorben sein. Ich habe ihn quasi nie gesehen oder etwas von ihm gehört, darum kann ich nichts Weiteres darüber schreiben.

In jenen Zeiten damals, in welchen ich Medikamente nahm, vertrug ich – gegen allgemeine schulmedizinische Ansicht – alle Drogen, die ich guthieß. So z.B. Marihuana, Alkohol, Psilocybin oder LSD. Dabei möchte erwähnt sein, dass ich in solchen Zeiten diszipliniert genug war, um stets vorsichtig zu dosieren. In den psychotischen, also Medikament – freien Phasen hatte ich für solche Drogen einfach kein Geld, war mit meiner verzerrten Umwelt – Wahrnehmung beschäftigt und hatte kaum soziale Kontakte. Demzufolge halte ich es auch für unwahrscheinlich, dass Drogen als Auslöser oder ‚Beschleuniger‘ wirkten in den Monaten vor den Einweisungen, denn ich hatte in meinem Zustand gar keinen Zugang dazu. Ich sorgte nur für das Nötigste und war wie ein Blatt im Wind, losgelöst von Allem und fast jedem, der mich vorher verstand und respektierte. Der Mensch, welcher reich geboren wird, ob nun mit gravierenden „Defiziten“ (z.B. einer angeborenen Psychose) oder nicht, wird immer in einer höheren Position sein, als jene, die sein Geld vermehren – auch wenn diese kerngesund und mit anspruchsvoller Intelligenz gesegnet sind. Er zahlt keine Miete, spart legal Steuern und kann, wenn er überhaupt will, immer leichte und gewinnträchtige Arbeit verrichten (aus Geld mach‘ Geld). Der arbeitsmüde, gestresste und ewig unterbezahlte, stets benachteiligte und lohnabhängige Werte – Produzent mit den besten (aber leider nicht geförderten) Veranlagungen jedoch stirbt statistisch gesehen auch noch viel früher als jene gut betuchten Leute, wie aktuelle Statistiken beweisen. Und das, obwohl er eine kleine Rente eingezahlt hat, von welcher er genau deswegen kaum etwas hat. 2) So gesehen sind es die ‚kleinen Leute‘, die durch Psychosen langfristig benachteiligt sind. Sie haben mehr Stress im Alltag, brechen Ausbildungen ab, haben Lücken im Lebenslauf – und dadurch Nachteile in der Karriere; sie verarmen, werden Außenseiter oder Alkoholiker, Flaschensammler und Selbstmörder. Im Buch wird auch verdeutlicht, wie ich damals dem sicheren Tod ins Auge blickte. Im Jahre 2000 bin ich – halb unterernährt und mit einem lebensgefährlichen Magendurchbruch – auf die Intensivstation gekommen, wurde notoperiert und lag zehn Tage im künstlichen Koma. Über einen durchaus vergleichbaren Fall wurde im SPIEGEL vom 7.10.2013 berichtet. Dort ging es um einen ebenfalls schizophrenen Mann, dessen engste Angehörige seine Verweigerung der Medikamenten- Einnahme ignorierten, bis er schließlich verhungerte, da er später auch keine Nahrung mehr zu sich nahm. Die Familie des Mannes wurde wegen Körperverletzung durch Unterlassung mit Todesfolge mit bis zu 3 Jahren und 9 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. 3) Der Unterschied zu meinem Fall besteht darin, dass ich mit einem Magendurchbruch (Perforation der Magenwand durch Magensäure) gerade noch durch eine Not-OP gerettet werden konnte. War ich etwa selbst schuld, dass ich mich zeitweise in den Krankheitsphasen nicht mehr richtig ernähren konnte oder handelten die Ärzte, Freunde und Angehörigen etwa falsch? Immerhin war meine Psychose derzeit schon jahrelang bekannt und ich hätte wegen dieser Sache sterben können. Nun ja, da ich aber noch am Leben bin, habe ich immerhin die Muse gefunden, dieses Buch zu schreiben. Es ist in Deutschland leider und nachweislich so, dass die Psychiater die wirklich problematischen Fälle oft verkennen oder zu kurz bzw. unzureichend behandeln – zugunsten weniger schwerwiegender psychischer Leiden. Außerdem ist kaum ein medizinisches Fach derartig von Fehldiagnosen heimgesucht, wie die Psychiatrie. Gewalt ist dort immer noch ein Druckmittel – vor allem – wenn es um Zwangseinweisungen geht. 4) In Deutschland steigt die Zahl der diagnostizierten seelischen Leiden von Jahr zu Jahr und in kaum einem Land gibt es ein ähnlich umfassendes Hilfsangebot. Das heißt allerdings nicht, dass es psychisch kranken Menschen in Deutschland wirklich besser geht als anderswo. Denn ob und wann ein Patient die Hilfe bekommt, die er benötigt, hängt oft von Zufällen ab – sowie von finanziellen Anreizen, welche einer sinnvollen Behandlung entgegenstehen können. 5) Da man gegen Fehler von Ärzten aber bereits nach drei Jahren nicht mehr klagen kann, bliebe jetzt, da ich nun nach mehr als zwei Jahrzehnten wieder völlig symptomfrei und verhandlungsfähig bin, nur noch eine Klage auf Schmerzensgeld gegen meine Eltern. Unterlassene Hilfeleistung (mit lebensgefährlicher Folge) verjährt nämlich erst nach 30 Jahren (siehe auch: SPIEGEL 7.10.13 „Irrfahrt durch die Nacht“). 3) Doch alle Anwälte, welche ich kontaktierte, waren zwar der Meinung, dass ich von der Sache her eindeutig recht hätte, jedoch keine juristische Grundlage für eine Anklage existiert. Tja, da hätte ich wohl tot sein müssen, um Recht zu bekommen – wie der Patient aus besagtem Artikel. Einer der Anwälte meinte etwa: „In diesem Land gibt es leider viel zu oft Ungerechtigkeiten und sie haben eben eine Menge Pech gehabt.“ Nun ja, so etwas hilft mir natürlich nicht sonderlich weiter, wie der Leser unschwer erkennen wird. Es gibt tatsächlich sehr viele schlecht – bzw. unbehandelte psychisch Kranke in Deutschlands Straßen, welche nicht nur Ärzte, sondern auch Betreuer und gegebenenfalls Rechtsanwälte brauchen. Wir gehen täglich an Ihnen vorbei und können ihnen als Laien kaum beistehen. Wir schauen täglich zu, wie sie hilflos und meist einsam ihr bedauernswertes Leben fristen, obwohl vielen von Ihnen geholfen werden könnte.

Vielleicht findet sich ja mittels diesen Buches ein mutiger Anwalt des Zivil- und Medizinrechts, welcher meinen Fall als Herausforderung sieht und sich dessen annimmt.

Immerhin hätte ich vom Winter 93/94 an symptomfrei sein können und mir die 15 Jahre Krankheit und deren Folgen ersparen können, wenn ich nur entsprechend behandelt bzw. rechtzeitig über die Psychose aufgeklärt worden wäre und/oder eine Betreuung erhalten hätte – sagen die Ärzte. Beides kam viel zu spät – ca. 10 Jahre nach der ersten Diagnose.

Ausschnitt eines Comics von mir (Geburtstagsgeschenk an einen musikalischen Mitbewohner 1991)

Dann dauerte meine völlige Genesung noch einmal etwa 5 Jahre (bis ca. 2008) und mittlerweile geht es mir gut. Heute habe ich keinen Betreuer mehr und erhalte alle fünf Wochen eine gering dosierte Psychopharmaka-Depot-Spritze vom Arzt. Dank der Aufklärung bin ich seither auch nicht mehr rückfällig geworden (Medikamente absetzen) und führe wieder ein normales Leben – abgesehen davon, dass ich mich nun mit unterschiedlichen Nebenjobs durchschlagen muss, anstatt auf eine normale „Karriere“ zurückblicken zu können, wie z.B. meine recht große Familie, welche von meinem Leid dieser Jahre aber komischerweise kaum etwas mitbekam. Der Großteil meiner Verwandten in Ost und West war nie arbeitslos, hatte eine Chance auf Karriere und Studium, bezogen oder beziehen vergleichsweise üppige Renten und kennen keine klaren Worte über politische Ansichten. Zu DDR- Zeiten war die Ost-Verwandtschaft meist SED-kompatibel und führt nach der Wende dann meist ein „normales“ Leben mit Kind, Auto, Job, Marken-Kleidung und netten, neuen Volksparteien – denn wer war schon wirklich freiwillig in der SED? Ich dagegen wurde nach und nach das schwarze Schaf. Familiären Respekt erlangt da schon eher der junge Bundeswehr-Offizier unserer Sippe, welcher gutes Geld damit verdient, potentiell bzw. je nach seiner Aufgabe, einen schnelleren bzw. effizienteren Tod von Menschen zu organisieren oder herbeizuführen – und sei es auch nur als Unterstützung oder rückwärtige Kraft im Dienste dieser Militaristen. Der betroffenen Menschen individuelle Not, ihr geringer Bildungsstand oder ihre mentalen Beweggründe werden aus „höherem Interesse“ der Bundeswehr dabei diplomatisch wenig einbezogen. Die damals medienwirksamen und umstrittenen deutschen bzw. NATO-Kriegseinsätze mit (zu) vielen zivilen Opfern in Afghanistan beispielsweise zeigen dies ja recht deutlich. Oder geht es den Menschen in jenen Gebieten, in denen auch (zufälligerweise?) die mit weitem Abstand größte Schlafmohn – Menge der Welt angebaut wird nach den Bundeswehreinsätzen dort besser als zuvor? Werden diese Länder neu aufgebaut und erhalten sie menschenwürdige Standards? Nein. Es sind vielmehr rein monetäre, strategisch durchdachte sowie auf wirtschaftliche Interessen ausgerichtete Konflikte, welche vordergründig von der Politik schöngeredet werden, um die Interessen irgendwelcher großen Lobbyisten zu verschleiern. Nun ja, solange die Milliarden für solche Einsätze von braven und falsch informierten Steuerzahlern finanziert werden, haben die großen „Strategen“ jener Militär-Konflikte sozusagen keine Kosten und es bringt ihnen dazu noch Geld ein. Man könnte mit viel schwarzem Humor sagen: „des einen Freud‘ – des anderen Leid“. Meine Verwandtschaft kümmerte sich damals um ihre eigenen Probleme. Verteilt über ganz Deutschland, traf man sich zu Geburtstagen und Beerdigungen, schrieb sich Glückwunschkarten zum jeweiligen Anlass und ging sich ansonsten aus dem Weg. Keiner meiner Verwandten musste je auf der Straße betteln, jahrelang stark beeinträchtigte Leute ertragen bzw. gar Weggeworfenes essen, monatelang verwirrende Gemütszustände erdulden oder sein Kind verlieren, so wie ich. Was man aber selbst nicht in der Praxis erprobt oder erlebt hat, kann man auch nicht richtig beurteilen, heißt es. Theorie ist eben nicht Praxis, denn dazu gehören die körperliche Erfahrung sowie das komplexe Verständnis des Problems und nicht nur die theoretische Vorstellung an sich. Oder anders gesagt: würde es nicht so viele verhätschelte Theoretiker geben, die nie wirklich Hunger hatten, hart arbeiten mussten, nie arm oder verzweifelt waren und dergleichen, dann wäre dieser Planet bestimmt viel sozialer geprägt. Der bekannte dänische Autor Hans Christian Andersen beschreibt diesen Fakt äußerst anschaulich, sehr dramatisch und auf erschütternde Art und Weise in seinem berühmten Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ aus dem Jahre des Herrn 1845. Das Mädchen sitzt barfuß zur Silvesternacht im Schnee und versucht, ein paar Streichhölzer zu verkaufen, aber alle gehen an ihr vorbei, weil sie Hunger und Kälte selbst nicht kennen. Es ist ein Märchen, bei welchem selbst die derbsten Lausbuben kleinlaut werden können, wenn sie es lesen oder hören. Wer das Märchen kennt, wird mir sicherlich zustimmen. Die Zeiten meiner psychotischen Phasen sowie die relevanten Erlebnisse und Eindrücke wurden und werden leider oft von Leuten sehr dilettantisch beurteilt. Und dies oft genug von solchen, welche immer noch glauben, Schizophrenie sei der Ausdruck einer „gespaltenen Persönlichkeit“ des Betreffenden, was jedoch ein Symptom der sogenannten „multiplen Persönlichkeitsstörung“ ist. Es gibt menschliche Charakter-Anlagen, welche unser soziales Verhalten und Denken in jederlei Hinsicht mehr bestimmen als reine „Erziehung“ – und erst recht, wenn diese übertrieben streng ist. Warum muss man aber erzogen und gezüchtigt werden, sich an die vorherrschende Religion oder die jeweiligen, oft widersprüchlichen, teils uralten Gesetze halten? War man denn nicht gesund und gut genug, als man auf die Welt kam? Muss der Mensch denn unbedingt gezählt, bewertet, eingeordnet, bestraft, gezwungen, genormt, geformt und angepasst werden – und wenn ja, warum? Wir sind schließlich denkende und fühlende Individuen mit hohem Bewusstsein und eigenem Entscheidungspotenzial. Es sind die alten, hierarchischen, moralischen, religiösen und patriarchalen Traditionen, die uns zu „freiwilligen“ Sklaven machen. Damit diese Regeln aber auch gut funktionieren, muss schon früh erzogen, kritisiert, gefordert und geführt werden, denn der Mensch denkt und handelt nun mal allzu gern selbstständig. Das Schlagen der Kinder gehört(e?) in unserer Familie zur Erziehung und ich frage mich manchmal, ob es nicht gerechtfertigt wäre, solchen Vätern oder Müttern die eine oder andere Tracht Prügel zurück zu erstatten. Sie sind nun schließlich alt und die Schwächeren in diesem Moment, so wie viele von uns als Kinder damals zu schwach waren. Nach dieser „pädagogischen“ Logik müsste es ja eigentlich rechtens sein. In der 1. Klasse lernte ich den Spruch: „ Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es auch wieder heraus“. Wahre Liebe oder Respekt lassen sich nun mal nicht durch Prügel erzwingen. Und es gibt Dinge, die sich nicht mal eben verzeihen lassen. Ob es deshalb gerecht wäre, die Alten zu schlagen, überlasse ich dem urteilenden Leser. Der Inhalt dieser Autobiografie muss auch nicht Allen gefallen (das versuche ich später mit meinen Liebes-Memoiren), sondern soll widersprüchliche Realitäten, Hintergründe und Wahrheiten erklären, wobei mich bürgerliche Boulevard-Presse-Ansichten oder das angepasste, traditionelle Mainstream-Denken vieler Landsleute dabei herzlich wenig interessierte oder gar inspirierte.

Wenn 50 Millionen Menschen etwas Dummes sagen oder tun, bleibt es dennoch eine Dummheit.“ (Anatole France)

Bild von mir, 1990

(gekürzt)

2. Die erste Krankheitsphase, unser „Squat“ und die Reise nach Afrika

Ich war immer noch Junggeselle im Lehrbetrieb und hatte meinen Abschluss mit Note Zwei gemacht, kündigte jedoch ein gutes halbes Jahr nach der Ausbildung. Ich zog darauf in das B-Haus nebenan (K85) und flog im Sommer ’90 mit meiner damaligen Freundin, die mich ins Haus geholt hatte und vier befreundeten, „welterfahrenen“ Wessis (Westdeutsche) für sechs Wochen nach Ghana. Da es meine erste Flugreise war, welche mich zudem noch auf einen anderen Kontinent brachte, musste ich dort unbedingt einen Reisebericht schreiben. Auszug aus meinem Reisetagebuch (leicht bearbeitet) :

19. oder 20.7.91, Accra, Ghana

Wenn ich heute beginne, über meine Erlebnisse im schwarzen Kontinent, welche sich auf Ghana beschränken, zu berichten, blicke ich auf etwa 10 Tage Aufenthalt zurück. Der nächtliche Ausstieg aus dem Flugzeug in Accra (der Hauptstadt) war wohl der Moment der größten Erwartung, obwohl ich feststellte, dass die Dunkelheit, die Erdanziehungskraft und sommerliche Hitze etwa dem Abreiseland entsprachen. Die Luft war jedoch viel feuchter und es gab plötzlich keine weißen Menschen mehr um uns herum. Ghana war übrigens das erste afrikanische Kolonialland, welches von der englischen Krone unabhängig wurde, hat öfter politische Spannungen und Umstürze erlebt und kaum (europäischen) Tourismus. Mein weiterer Erwartungsdrang wurde durch bürokratische Behörden gebremst, die erst einmal sämtliche Ausweise, Papiere, Zettel und sonst was studierten, abstempelten und auf jedes ihnen wichtig erscheinende Teil mindestens ein Formular ausfüllten. Wir flogen übrigens zunächst zu zweit (ein befreundeter Gitarrist eines anderen Berliner Squats und ich). Die anderen vier folgten eine Woche später. Als wir dann endlich aus dem Flughafen raus waren, gab es viele aufgeregte schwarze Menschen, welche ein Taxi, etwas zu Essen oder eine nächtliche Begleitung für die Clubs in Accra anboten. Wir fuhren schließlich in einem (für dortige Menschen) völlig überteuerten Taxi über die Straße, welche den Strand entlang nach „Coco Beach“ führt, einem kleinen Strandhotel mit malerischen, kleinen Lehmhütten, von denen wir eine bewohnten. Wir erkundeten die spärlich erschlossene Umgebung und waren überrascht, dass wir Marihuana für 2 D-Mark erhielten, von welchen man etliche Joints drehen konnte. Manche „Brothers“ zeigten uns auch stolz ihre Pflanzen, welche in alten Hausruinen unter optimalen Bedingungen wuchsen – mit der Sonne fast im „Zenit“ (beinahe genau unter dem Äquator und damit unter dem fast höchstmöglichen Sonnenstand am Himmel). Pures Bio-Weed also. Am 4. oder 5. Tag entfernte ich meinen großen Ohrring, weil mich eine Menge Leute zum Scherz immer wieder fragten, ob ich Mann oder Frau wäre. Dies wiederum veranlasste mich, mehr auf die Ohren der Menschen zu schauen und festzustellen, dass tatsächlich nur die Frauen Ohrringe trugen. Das stürzte mein Bild vom ‚beohrringten Mohren‘, wie er z.B. bei Wilhelm Busch dargestellt wurde und ich sah, dass es im durchstrukturierten, ‚modernen‘ Ghana offenbar keine natürlichen ethnischen Stämme mit entsprechendem Schmuck mehr gibt, was aber nicht ganz stimmt. Wir erlebten nämlich später ein volkstümliches Landesfest in der Hauptstadt mit traditionellem Körperschmuck und entsprechender Kleidung. Allerdings wird die Sache mit dem Körperkult (z.B. Ohrringe) in den übrigen afrikanischen Ländern sehr verschieden gehandhabt. Es gibt natürlich Regionen mit ausgeprägtem Stammeskult und speziellem, teils extremen Körperschmuck wie gedehnte Ohren, Lippen oder Hälse – ganz zu schweigen von unmenschlichen Beschneidungen junger Mädchen, extremen Härteproben unter jungen Männern und anderen ziemlich unwirklichen, alten Ritualen. Diese sind aber eher bei zivilisationsfernen Stämmen üblich, als in den großen Städten des Kontinents bzw. in den – diesbezüglich – kultivierten Ländern Afrikas. Es war damals eine phantastische Zeit – wir waren nur 4° vom Äquator entfernt an Afrikas Westküste; die Sonne stand immer fast am Scheitelpunkt; menschenleere, atlantische Traumstrände und ein überwältigender Dschungel, welcher sich direkt hinter dem Strand erhob, säumte die Küste. Nun ja, der Flug war ziemlich teuer, weil es in diesem Land keinen nennenswerten Tourismus gibt und wir mussten uns alle 2 Wochen bei den Behörden melden – dafür waren Unterkunft, Essen und Marihuana fast für umsonst und wir lernten immer schnell junge Leute und Neugierige kennen, die uns als Gäste haben wollten, weil Weiße bzw. ausländische Touristen in Ghana allgemein selten sind. Ich hatte zu jener Zeit lange, schwarz gefärbte Rasta-Zöpfe (Dreadlocks) und war für alle Brothers und Sisters, die wir kennenlernten, nur Micky, der „White Rasta-Man“. Nebenbei gesagt, sah ich in Ghana kaum ‚Psychonauten‘, wie ich auffällige, psychotische Menschen heutzutage nenne. Dies jedoch lag wohl eher daran, dass ich selbst anfing, allmählich psychotisch zu werden und durch neue, aufregenden Situationen und die sich einschleichende Schizophrenie allmählich den Realitätssinn zu verlieren. Sogar bei psychisch stabilen Menschen kennt man ähnliche Zustände – den sogenannten Kulturschock. Für mich kamen aber auch alle anderen vorherigen, psychisch belastenden Umstände hinzu, wie z.B. die schier unglaubliche Maueröffnung, meine zeitgleiche Ausbildung, die einmaligen Umstände der Zeit nach der „Wende“ sowie das plötzliche Gemeinschaftsleben unter sogenannten Außenseitern. Meine Psychose nährte sich aber auch durch die in Berlin erlebte Gewalt auf den täglichen Demonstrationen, die neuen politischen Umstände und die Mainzer Straße-Kämpfe, welche Monate zuvor zelebriert wurden. So etwas muss ein junger, an Hierarchien und DDR-Sozialismus gewöhnter Mensch erst einmal verarbeiten. Dabei sollte man besser nicht psychotisch veranlagt sein, weil die eigentlich gesunde Intelligenz sowie alte, vertraute Gewohnheiten und Personen plötzlich durch neue, teils unlogische, tragische oder schwer fassbare Ereignisse dadurch neu definiert werden müssen. Die Chemie des Körpers ist im Krankheitsfall so ungesund, dass der Geist ebenfalls Schaden nimmt. Der Körper ist halt ein Gebilde aus hunderttausend Systemen, welche einander bedingen, aber wenn ein paar wichtige Kreisläufe dabei wegfallen, wird die Psyche (auch: Seele) anfällig für Fehler oder unerklärliche, weltfremde, ja fanatische Eindrücke und Motivationen. Eine „stabile“ Psyche verdrängt und vergisst solcherlei Unannehmlichkeiten eher, während ein – durch solcherlei Situationen überforderter, gequälter und gereizter Geist mit Depressionen, Auffälligkeiten oder eben handfesten psychotischen Schüben reagiert.

Die Reise nach Afrika war für mich und meine beginnende, unbehandelte Schizophrenie jedoch ein einprägsames, heilendes und die Krankheit hinauszögerndes Ereignis. Das Tagebuch berichtet des Weiteren Folgendes über unsere tropische Reise: eines Tages, wir kämpften uns gerade durch die Straßen einer Stadt, sprach uns ein ‚Rastafari‘-Mann an. Wir aßen mit ihm ziemlich scharf zu Mittag und freundeten uns an. Leider entpuppte er sich später als Gauner. Er erzählte uns, dass es in seinem Dorf viele „Rastas“ geben würde, was aber nicht stimmte. Wir besuchten ihn nämlich später in seinem Dorf, wo er uns ein billiges ‚Theater‘ vorspielte. Doch dazu später. Inzwischen waren meine Freundin, das zweite Pärchen und eine gewisse, ebenfalls gut befreundete Medizinstudentin aus Berlin angekommen. Unsere ersten Unterkünfte in Accra waren typischerweise mit Ventilatoren ausgestattet und fungierten dazu als Stundenhotels. Wir zahlten um die 4 bis 5 Mark die Nacht pro Kopf. Da gerade Regenzeit war, wurde bei Regen, oder wenn er sich ankündigte, der Strom abgestellt. Wir lernten, mit Eimer und einem Töpfchen zu duschen; Kaffee gab es in der Stadt nur als Granulat und außerhalb gar nicht. Wir verbrauchten Unmengen Bier und Cola, die (fast) einzigen Getränke in Flaschen. Die beste Alternative dazu waren die „Trink- Orangen“. Die Einheimischen schälen dabei den dickschaligen Orangen mit scharfem Messer die äußere Schale ab (nur ca. 1mm) und schneiden ein mundgerechtes Loch in die Spitze der Frucht. Dadurch kann die Orange beim Auspressen nicht platzen und man kann sie komplett austrinken, wenn man sie zusammendrückt. Zu beachten sind auch die Wasserkokosnüsse, aus denen sich leicht Trink – oder Essgefäße herstellen lassen bzw. die leichten, dünnen Maiskolbenblätter zum Joint-Drehen. Dünne Bibel-Seiten werden hier übrigens ebenso zum Zigaretten (etc.) drehen verwendet, wie Telefonbuchpapier. Als unsere Leute angekommen waren, trafen wir uns ins Accra und fuhren 2 Tage später nach „Busua“, einer schönen Strandbucht. Die Station für unseren Bus nach Busua liegt außerhalb Accras, der Hauptstadt und ist gleichzeitig ein großer Markt. Wir hatten viele Händler um uns vor dieser Reise, aber am meisten imponierte mir ein kleiner Junge, welcher mit einem riesigen Blechteller auf dem Kopf herum lief, auf welchem eine Handvoll Kaugummis lagen. Wenn er diese verkauft hatte, konnte er sich vielleicht eine Schüssel Reis mit Gemüse und Trinkwasser leisten. Das ist ein Optimismus, welchem ich wahrhaft Respekt zolle. Es gab dann ein ziemliches Gerangel der Händler um den Bus und unter ohrenbetäubendem Lärm wurden irgendwelche Gepäckstücke auf das Dach des Busses verladen. Dabei wurde ein großer, leerer Plastikbehälter erst hoch in Richtung Busdach geworfen, kam jedoch nicht beim Fänger an, flog plötzlich wieder herunter und landete fast zielgenau in der Hühnereier-Pyramide auf dem Kopf einer Händlerin, welche bestimmt nicht gegen ihren Verlust versichert war. Als der Bus endlich voll war – und das war er irgendwann sehr wohl – kämpfte er sich durch das Chaos unentwegt hupend auf der Küstenstraße durch, welche wir ca. 4 Std. befuhren – und zwar in Richtung Elfenbeinküste. Unser Sitzfleisch wurde stark beansprucht, obwohl unser Musiker es fertig brachte, währenddessen unverdrossen den „SPIEGEL“ zu lesen. Kurios waren auf dieser Fahrt auch zweifellos die 3 Männer, welche vom Busbahnhof bis zum Zielort ununterbrochen das Christentum predigten, heilsame Tinkturen verkauften und damit immerhin ganz gut vom Einschlafen ablenkten. Unterwegs fuhren wir durch mehrere Militärkontrollen und kamen schließlich abends bei Regen im „Pleasure Beach-Hotel“ an. Dort belegten wir drei Zimmer (eine Reservierung war nicht notwendig). Ein paar Geckos rannten die Wände hoch und runter. Wir aßen, tranken und verzogen uns unter unsere Moskito-Netze. Am nächsten Morgen ging es sofort ins Wasser des Atlantiks, wo uns die Einheimischen schon beim Morgenbad diverse Geschäfte vorschlugen. Zwei Tage später zogen wir dort aber aus, weil wir im Dorf ein paar bessere Zimmer erkundet hatten. Und die waren einfach fantastisch. Das eine Zimmer im Obergeschoss hatte ein Fenster und eine Tür mit Terrassen-artigem Steinvorsprung in Richtung offener Ozean – mit Blick auf eine kleine Insel mitten in der Bucht, auf der genau 11 Palmen wuchsen. Durch ein anderes Fenster konnte man dem Dorftreiben zusehen, welches hinter dem Strand ablief. Dieses und ein weiteres Zimmer im oberen Stockwerk waren ohne Betten und wir nutzten sie als Essens- und Gemeinschaftsräume wegen dieser großartigen Aussicht auf Bucht, Insel und den Atlantik. Die beiden anderen Zimmer im Untergeschoss hatten Betten, Tisch und Stühle. Wir waren sehr zufrieden, denn diese Privatunterkunft war weitaus besser und preiswerter als die schnöden Hotels, in deren Nähe auch manchmal gut betuchte Weiße herum liefen, welche es aus nicht nachvollziehbaren, vermutlich finanziellen Gründen hierhin verschlagen hatte. Man wunderte sich im Dorf scheinbar, dass wir unser Essen selbst kochten. Mary, unsere ältere, ergraute Gastgeberin gestattete uns die Küchenbenutzung. William, ihr Sohn, gab uns Kochgeschirr, Gewürze und was man sonst so zum Kochen brauchte. Er beriet uns auch stets und erwähnte einmal, dass man im Nachbardorf am Strand Hummer kaufen könne. Okay, wer hat jemals einen Hummer gekostet? Wir gingen also durch etwas Busch und Geröll nach Dixco, dem besagten Dorf. Der Fischer, Ben mit Namen, welcher mit uns ins Geschäft kommen wollte, holte eine große Holzkiste voller riesiger, bunter Prachthummer aus dem Meer. Dazu stürzte er sich kopfüber in die Wellen, schwamm, tauchte und kam schließlich mit der Kiste zurück. Wir kauften ihm ein großes und zwei etwas kleinere Exemplare ab. Ich hatte noch nie so große und so prächtig kolorierte Krebstiere gesehen (sie schimmerten in vielen Farben). Abends, am Strand vor Marys Haus bereiteten wir die Hummer mit Reis, Zwiebeln, Tomaten, Kasava (kartoffelähnliche Frucht), Avocado und regionalen Gewürzen zu. Es war ein Festmahl. Seither habe ich nie mehr Hummer gegessen und das ist vielleicht auch gut so. Nach diesem einzigartigen, kulinarischen Genuss abends am Strand tranken wir Bier und Wein, rauchten gutes Natur-Ganja, badeten kurz vor Sonnenuntergang noch einmal zusammen nackt im Meer und hörten dann am Strand-Lagerfeuer die „Ramones“ vom mitgebrachten Kassettenrekorder. Die Strände waren, wie bereits erwähnt, nahezu menschenleer. Meine Freundin und ich liefen danach etwas abseits zu einem kleinen, einsamen Baum am Strand, um unsere angestaute Lust zu entladen. Da wir am Strand meistens sowieso alle nackt waren, mussten wir uns beim Sex nicht mit dem lästigen Ausziehen der Kleidung befassen. Der herrlich kühle Abendwind, die Dunkelheit mit ihren Millionen Sternen und die Geräusche der Tiere im Dschungel hinter dem Strand beflügelten unsere Sinne. Das Bier, gutes Essen und Weed förderten diese Eindrücke um so mehr. Anschließend wurde am Feuer gekuschelt und ich schlief schließlich tief und selig mit ihr unter unserem Moskito-Netz im Haus am Strand. Sechs Wochen sind für ein Menschenleben vielleicht nicht viel, aber ich wünschte, dass jeder Mensch so etwas erleben dürfen sollte. Dabei wäre es allerdings schon sehr beachtlich, wenn es auch nur einen Tag im Jahr gäbe, an dem alle Menschen satt würden. (gekürzt)

 

3. Die Mainzer Straße – Krawalle

Bevor wir nach Afrika flogen, tobte die Straßenschlacht in der Mainzer Straße in Ost-Berlin im November ’90 zwei Tage, zwei Nächte und einen Morgen lang. Die beschriebene, erste große und einmalige Afrika-Reise wurde bewusst vor jenem kontroversen Kapitel behandelt. Der geneigte Leser sollte eben nicht den Eindruck bekommen, es handele sich bei den Hausbesetzern und Co. in den 90ern nur um eine gewaltbereite Minderheit von Spinnern, Außenseitern oder Enttäuschten – wobei es natürlich auch diese gab. Sie waren damals eben auch durchaus kultiviert, strategisch miteinander verbunden, neugierig, politisch motiviert, sozial und experimentell. Der Mainzer-Straße-Riot war übrigens nicht der erste Häuserkampf in Berlin-Friedrichshain. Bereits 1872 kam es zu den sogenannten Blumenstraßen-Unruhen im selben Kiez, welcher durch gewalttätige Auseinandersetzungen ebenso für landesweite Debatten sorgte und auch sonst einige Parallelen aufwies.

 

Der Aufruhr – die Geschichte

In der Blumenstraße, am 25. Juli 1872, heute Neue Blumenstraße, begann der ‘Blumenstraßenkrawall’. Im Haus Blumenstraße 52 war ein Tischler vom Exekutor (damals : Exmittierung, Räumung) auf die Straße gesetzt worden. Als die Feuerwehr kam, um den Hausrat wegzuräumen, brachte das die Erregung der Menschen zum Überlaufen. Dem Hauswirt wurden die Fensterscheiben eingeworfen. Die berittene Polizei, dazu eingesetzt, die 4.000 bis 5.000 Demonstranten auseinander zu treiben, wurde mit Steinwürfen empfangen. Eine Straßenschlacht kam in Gang, die bis 3 Uhr morgens andauerte. Am nächsten Morgen sprach sich die Nachricht herum, daß die Polizei damit begonnen hatte, die Obdachlosenbaracken am Frankfurter Tor niederzureißen. Der Aufruhr verbreitete sich über das ganze Stadtviertel und dehnte sich über die Blumenstraße, die Frankfurter Straße, die Weberstraße und deren Querstraßen aus. Gaslaternen wurden eingeworfen, Rinnsteinbohlen ausgehoben und Barrikaden gebaut. Die anrückenden Polizeikräfte wurden mit Steinbombardements aus den Fenstern empfangen. Über 1.000 Polizisten sperrten das Aufruhrgebiet von den umliegenden Straßen ab. Zwei Batallione des Kaiser-Alexander-Regiments und zwei Schwadronen Gardedragoner standen mit scharfen Patronen bewaffnet zum Ausmarsch bereit. Nichtsdestoweniger breitete sich die Revolte weiter aus und ein regelrechter Guerillakrieg entfaltete sich. Das Polizeirevier Lange Straße wurde vom Volk gestürmt. Mit Mühe gelang es den Dragonern schließlich, die Unruhen zu unterdrücken. Die Polizei tat ihr möglichstes, auch die Barrikaden verschwinden zu lassen. Aber sofort entstanden neue, die wiederum gestürmt wurden. So ging es bis in den August hinein … 7) Ein Jahr nach der Maueröffnung also sollte ein Szenario stattfinden, welches von der großen Öffentlichkeit relativ schnell vergessen wurde, da die einmalige, aufregende Wiedervereinigung, die „Goldgräberstimmung“ und die neue Macht der D-Mark derzeit alles andere in den Schatten stellten. Drei Tage „Ausnahmezustand“, während es tagsüber stundenlange Diskussionen mit den Anwohnern gab und versucht wurde, an die politisch Zuständigen zu kommen wie z.B. den Innenminister Pätzold oder den Polizeipräsidenten Schertz unserer tollen Rot-Grün Regierung damals, was jedoch so gut wie vergeblich war. Hausbesetzer, DDR- Oppositionelle und Mitglieder der Grünen versuchten telefonisch, persönlich und rund um die Uhr vergeblich, Kontakt aufzunehmen. Kein Wunder, denn zum Großteil hat sich der Konflikt zwischen den West-Bullen und den alten Westdeutschen Besetzern und Radikalen, welche derzeit teils auch in der Mainzer Straße wohnten, seit Anfang der 80er Jahre durch mehrfache Häuserräumungen etc. zugespitzt und fand in den 2 Nächten der Mainzer-Straße-Kämpfe gewissermaßen einen neuen Höhepunkt. Der Staat wollte seine traditionelle, repressive und autoritäre Macht im neu „vereinten“ Deutschland zeigen, die andere Seite der Kämpfer ein alternatives, selbstbestimmtes und möglichst selbstverwaltetes Leben manifestieren. Es gab deshalb jede Menge Westdeutsche Leute und Autonome in der Mainzer, die dort auch versuchten, den politischen Ton anzugeben. Die meisten „Ossis“ (Ostdeutsche) dagegen wurden zwar vom SED-Staat schon vor dem 16. Lebensjahr im sogenannten „Wehrunterricht“ umfassend „vor-militärisch“ geschult, aber niemand kannte eine direkte Konfrontation mit der Staatsmacht und somit waren wir irgendwie auch auf die Erfahrung der Westdeutschen angewiesen. Sie wussten z.B. wie man einen unlöschbaren Molotow-Cocktail aus einfachen Haushaltsmitteln herstellt, mit wassergefüllten Sprühgefäßen Reizgas aus den Augen spült, mit einem einfachen Buttermesser ganz fix Pflastersteine ausgraben kann oder eine Treppe schwer verbarrikadiert. Wir hatten (auch durch jene Leute) eine professionelle Telefonkette in den B-Häusern und sie zeigten uns, wie man unbemerkt offiziellen Strom anzapfen kann, wann man spätestens die „Hassi“ (Sturmhaube) aufziehen sollte, was ‚politisch korrekt‘ sei, welche Parolen man auf Demos gegen den neuen Staat ruft, wo man kostenlos Lebensmittel beziehen konnte, usw.. Aber was sollten wir Ossis sagen? Wir hatten diese Form der Auflehnung nie erlebt, weil sie sofort im Keim erstickt worden wäre und viele ehemalige DDR-Bürger sind noch heute in dieser Angst gefangen. Vielleicht macht dies ja die älteren Ostler so systemkonform; sie können sich scheinbar gegen kein zweites, völlig anders strukturiertes Deutschland mehr auflehnen, weil ihre Erfahrungen und Einstellungen zum Leben von der alten, lähmenden DDR-Politik geprägt waren. Ein neues System stellt halt auch neue Gesetze und Regeln auf, welchen viele nicht gewachsen waren. Heute wohnen sie teils an den Stadträndern, schlagen sich mit Nebenjobs durch und schimpfen auf die Regierung, ohne Wählen zu gehen. Auf der anderen Seite wussten die wenigsten Wessis mit der neuen Situation umzugehen und verhielten sich wie „brüderliche, demokratische“ Besatzer. „Am deutschen Wesen wird die Welt genesen“ schallte es vom goldenen Westen herüber – ganz zu Schweigen vom gleichzeitigen Rechtsruck in Ostdeutschland und schleichender Weise in ganz Europa – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. An dieser Stelle wird der national-konservative Europäer zwar sagen: „uns gab es schon immer“ und: „wir brauchen Hierarchien, Gesetze und Führer“, aber die gewöhnlichen, hart arbeitenden Menschen gibt es schon viel länger und jene können auch für sich selbst entscheiden. Eigentlich. Da gibt es jedoch immer noch die alten Gesetze, Regierungen, den Adel und die Konzerne sowie die gelobten ‚Traditionen‘, welche das Volk regulieren, prägen, ausbeuten, belügen, vernachlässigen und schließlich meist arm sterben lassen. Vielen Menschen in der Szene nach ’89 erschien es damals vernünftig, dagegen anzukämpfen und für einige von ihnen wurde so etwas wie eine Lebensaufgabe daraus. Andere sind – meist viel zu jung – gestorben, weil sie nach der Übernahme der DDR Opfer von unbekannten oder krassen Situationen wurden: Obdachlosigkeit, Gewalt, schlimme Drogen, Einsamkeit und Massenhysterie, Arbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und Kriminalität, Feindschaften, Familiendramen etc.. Wer aber kann ohne Unterstützung von Verbündeten mit einer Mixtur solch krasser Attribute leben, ohne irgendwann zu ‚versagen‘ und aufzugeben? Dem geneigten Leser soll an dieser Stelle jedoch erst einmal eine Erklärung zum folgenden Kapitel nahegelegt werden: Die Bezeichnung „Bulle“ für Polizisten ist nicht zwangsläufig eine Beleidigung, sondern kommt wahrscheinlich ursprünglich vom niederländischen „bol“ (Landpuller, Bohler). So hießen im 18. Jahrhundert dort die Landjäger und es bedeutet soviel wie: kluger bzw. heller Kopf.„Das Wort ‚Bulle‘ wird häufig in beleidigender Absicht verwendet. In einem Gerichtsurteil aus den 80er Jahren wurde jedoch festgehalten, dass es nicht ‚automatisch‘ eine Beleidigung darstellt, da es zuweilen auch als Eigenbezeichnung mit ironischer Distanz verwendet wird.“ ‚Der Bulle von Tölz‘? [Anm.d.Verf.] Außerdem ist es nicht strafbar, offenbar abfällig über eine große Gemeinschaft, also „die Bullen“ zu sprechen, da sich von diesen niemand persönlich angesprochen fühlen braucht. Sage ich zu einem einzelnen Beamten jedoch „Bulle“, dann ist es wiederum etwas Anderes, wobei es auch hier schon sehr unterschiedliche Rechtssprechungen gab. 8)

Ein „bulliger Mensch“ ist – ebenfalls umgangsprachlich – aber auch ein Mensch mit sehr kräftigem Körperbau und viele Beamte glauben vielleicht tatsächlich, dass sie mit einem massigen bzw. trainierten Körper künstlich geschaffene Gesetze besser durchsetzen und dabei natürlichen Gesetzen besser standhalten können. Nichtsdestotrotz gibt es eine ganze Reihe von Bullen, ohne die sich der scheindemokratische Staat nicht behaupten könnte und welche meinen vollen Respekt genießen. Dazu zählen Ermittler gegen Kapitalverbrechen, Menschenhandel und Sexualverbrechen, Umweltverstöße, Sklaverei, Kriegstreiberei bzw. Waffenhandel, illegale Jagd auf aussterbende Tierarten usw.. Der staatliche Prügelknabe jedoch, welcher beamtet und gut entlohnt für „innere, nationale Interessen“ und gegen unterbezahlte Arbeiter, deren Kinder oder ethnische und sexuelle Minderheiten sowie sozial Schwache „kämpft“, um politische Willkür zu unterstützen, ist und bleibt für mich ein Pseudo-Patriot, weil er sich gegen das Volk instrumentalisieren läßt. Ein rekrutierter Schläger, der für jeden ‚arbeiten‘ würde, welcher ihn nur gut genug bezahlt. Vielleicht ist die eingedeutschte Version nur die Assoziation mit einem wilden Bullen, welchem die Nerven durchgehen. Dann ist es zumindest doppeldeutig. Wenn tatsächlich als Beleidigung ein Stierbulle gemeint ist, der wild geworden ist, dann hat jeder Mensch den (künstlich) gereizten Bullen einer Stier- Arena vor Augen. In der Astrologie ist der Stier jedoch ein Venus-Zeichen und gilt als friedfertig, lustbetont, geduldig, ausdauernd und gründlich. Da ich selbst sowohl Stier als auch Hobby-Astrologe bin, kann ich bestätigen, dass sowohl der im Zeichen Stier geborene Mensch als auch das Tier zwar furchtbar wild und zornig werden kann. Dies kommt aber in der Regel nur durch lange Reizungen zustande – es sei denn, man hält ihm sprichwörtlich ein rotes Tuch vor und steckt ihm eine Lanze ins Fleisch. Soviel zum Wort „Bulle“. Ich persönlich finde es übrigens nur angemessen, wenn der brave, geduldige Stier-Mensch – nach astrologischer Aussage – bei starker Überreizung wilden (Körper-) Einsatz zeigt – er zieht ja schließlich andererseits gewissermaßen friedlich und stoisch die schweren Wagen der Mächtigen, Großen und Reichen durch den Schlamm der Geschichte, um es mit einem Augenzwinkern zu sagen. Wie soeben erwähnt, stammt die Bezeichnung „Bulle“ wahrscheinlich vom niederländischen „Bohler“, was wohl ‚heller Kopf‘ bedeutet. Allerdings waren damals auf beiden Seiten auch manche nicht allzu klugen Köpfe am Werk, welche da Schlagzeilen für die sensationsgierige Boulevard-Presse der Welt machten. Der Leser indes, dessen neugierige Erwartung an dieses Skript berechtigt ist, braucht keine Befürchtungen haben, dass ich mir selbst durch meine Äußerungen Schaden zufüge, da ich zur Zeit dieser Ereignisse bis mindestens 2003 aus ärztlicher Sicht – also nachweislich – psychisch beeinträchtigt und damit schuldunfähig war. Andernfalls wäre diese Autobiografie nicht so umfangreich geworden. Ich glaube übrigens auch, dass gewisse (auch kleinere) Fehlfunktionen der Psyche zu höherer Risikobereitschaft, niedrigerem Schuld-Bewusstsein und gravierenden Fehlurteilen führen können – wobei das Umfeld, der Verführungs-Faktor und die jeweilige (soziale) Situation eine erhebliche Rolle spielen. Heute weiß man, dass diese Krankheit in der Familie vererbt wird und hauptsächlich durch gravierende, existenziell relevante Situationen hervorgerufen wird. Dabei war ich nicht der einzige psychisch oder mental beeinflusste Mitstreiter dieser Tage in der Mainzer Straße. Die Bullen hatten ebenfalls Hitzköpfe, Fanatiker und Dilettanten zuhauf mitgebracht, was die Situation natürlich keineswegs erleichterte. Eigentlich könnte ich heute immer noch ein Leben als Berufsdemonstrant, Aufrührer und Ränkeschmied führen, da es diese Szene ja noch gibt. Dies ist aber nicht der Fall, was jedoch nicht heißt, dass ich mich weniger für aktuelle, Szene-bezogene oder allgemeine Politik u.ä. interessiere. So etwas wie in der Mainzer Straße hatten wir Ossis noch nicht erlebt; bisher gab es nur kleinere Scharmützel und Nazi-Überfälle auf unsere Häuser. Im Polizeidominierten Osten vor ’89 wäre so etwas eben kaum möglich gewesen. Da hatte aber auch wenigstens jeder Mensch Arbeit, eine billige Wohnung und auch Energie und Essen für wenig Geld. Andererseits war damals die unbestechliche Stasi allgegenwärtig. Jedenfalls kam ich am 1. Tag der Auseinandersetzungen, dem 12.11. 1990 gerade von der Frühschicht, als mich einer meiner Mitbewohner schon am U-Bahnhof abfing und mir die Lage schilderte. Am frühen Morgen gegen 7 Uhr wurden die B-Häuser in der Pfarr – sowie der Cortheniusstraße geräumt, wobei zumindest eine dieser Räumungen rechtswidrig war, weil die Besitzer als auch die Besetzer vorher nicht von der Wohnungsbaugesellschaft informiert wurden und ebendiese Hausbesetzer – auf Wunsch der Eigentümer – daraufhin in das Haus zurückkehren sollten.

Erster Tag – nachmittags am 12.11.1990

Ca. 50 Mainzer Straße-Bewohner hatten die Frankfurter Allee kurzzeitig um 11 Uhr mit zwei Baustellengittern blockiert, woraufhin sie mit einer Solidaritätskundgebung ca. 15 min. durch den Kiez zogen. Als sie zurück kamen, standen zwei Hundertschaften Bullen und ein Wasserwerfer vor der Straße auf der Frankfurter Allee. Gegen 12 Uhr mittags drangen dann etwa 20 Bullen in die Mainzer ein, verteilten Tränengas und ein Wasserwerfer beschoss willkürlich Wohnungen mit kühlem Nass. Darunter auch jene der „normalen“ Anwohner, obwohl die relevanten, umkämpften Häuser alle auf der anderen Straßenseite lagen. Die Bullen ließen den Leuten (scheinbar) zwischen ihren Angriffen genug Zeit, um in den umliegenden Straßen weitere Sperren zu errichten, Steine auszugraben und schließlich Gräben auszuheben. Dies wiederum war natürlich medienwirksam und lockte die Presse an bzw. verführte schon von da an zu Spekulationen über die „Radikalen“ und die „Erprobung des Bürgerkriegs“. In unserem Haus beschlossen wir an jenem Nachmittag, zusammen mit dem Kleinbus hinzufahren. Als wir dann nach kurzer Fahrt in der Mainzer Straße ankamen und das Geschehen sichteten, hatte ich das aufdringliche aber auch äußerst erhabene Gefühl, wir stünden auf einem Schauplatz der französischen Revolution. Die Bullen fuhren mit ihren „Wannen“ (umgangssprachlich für Kleinbusse, im Szene- Jargon auch „Sixpacks“ genannt) durch die Straße und es regnete Blumentöpfe, Pflastersteine und „Zwillen“-Geschosse aus den Häusern und von den Balkons. Vom Dach flogen große Kopfsteinpflaster herunter, welche riesige Beulen in die Dächer der Fahrzeuge schlugen. In den Seitenstraßen fuhren Räumpanzer immer wieder neu errichtete Barrikaden nieder; die Leute schaufelten Gräben, schrien wild durcheinander und gegen Abend flogen die ersten Molotowcocktails. Nachdem mittlerweile 3 Mal Wasserwerfer hindurch gefahren waren und die Polizei unter anderem eine Mietwohnung mit einem 1-jährigen Kind, welches 40° Fieber hatte, mit Wasser traf (also entglast und nassgespritzt – Anfang November), wurde beim 4. Mal die Frankfurter Allee mit Wasser und Tränengas beschossen. Dort hatten sich viele Neugierige, aber auch einige diplomatische, offizielle Menschen, wie das ‚Neue Forum‘, Vertreter der Grünen und Linken sowie der damalige Bezirksbürgermeister Helios Mendiburu eingefunden. Als dieser aus der Straße zurück wollte, wurde auch er mit Wasser beschossen. Wir zogen unsere schwarzen Masken auf und verteilten uns in Grüppchen und teils auch allein an die vielen, umliegenden Barrikaden. Unser Erkennungswort war „Haribo“, weil man natürlich niemanden mehr unter den Hauben in einheitlicher schwarzer Kluft erkannte. Man rief das Erkennungswort und wartete auf die Antwort. Alle, die mit „Haribo“- Rufen antworteten, waren sozusagen meine Vertrauten und jede der Gruppen hatte ein eigenes, oft originelles Erkennungswort. Ein unbekannter, älterer Bärtiger, der sich sprachlich als Holländer herausstellte, bat mich, bei der Entkoppelung der alten, Ostberliner Straßenbahn zu helfen, welche als Barrikade zur Boxhagener Straße Verwendung finden sollte. Dies sollte jedoch nicht gelingen, ebenso wie der Versuch, die Bahn auf den Schienen fest zu schweißen, weil die Bullen schnell erkannten, dass sie dann strategisch im Nachteil wären. Sie eroberten die Tram schließlich unter großem Aufwand in panischer Eile zurück. Wenn eine Beamten-Einheit eine Barrikade stürmte, schlugen sie beim Näherkommen im Takt mit den Knüppeln auf ihre Schilde, während wir mit Steinen auf die Barrikaden trommelten, bis sie auf uns zu rannten. Dann gingen sie im Steinregen unter. Wie von unsichtbaren Energien getrieben, rannte ich umher, warf Steine, bis mir der Arm weh tat, baute und verstärkte Barrikaden mit Unbekannten und wurde schließlich vom Wasserwerfer getroffen. Alles war furchtbar aufregend und ich hatte noch nie zuvor derartige Gefühle, Gerüche, Gewalt, Verzweiflung und Adrenalin um mich herum gehabt. Die Novemberkälte in den nassen Klamotten zwang mich schließlich zur Heimfahrt und alle Menschen in der U-Bahn beäugten misstrauisch den jungen Kerl mit den gefärbten Haaren und der vor Nässe triefenden, militanten Kleidung. Die meisten Fahrgäste wussten bereits durch die Nachrichten von der Straßenschlacht in Friedrichshain. Ich fuhr nach Hause, wusch mir das CS-Gas ab, zog mir trockene Sachen an und beratschlagte mit den anderen bei einem kräftigen Mahl die Situation. Die einhellige Meinung: durchhalten, solange der Staat die Schläger schickt – und für die Rechte der Benachteiligten kämpfen. Ich hatte aber in meinem, etwas psychotischen Sinnes-Zustand schon längst Blut geleckt und hätte mich durch andere Meinungen sowieso nicht davon abbringen lassen – man könnte dabei vielleicht auch die alte Rosa Luxemburg zitieren: „Die Revolution ist großartig; alle andere ist Quark“. Natürlich war es keine Revolution, doch schließlich standen auf der einen Seite viele Freiwillige, die für den Erhalt von sinnlos leer stehendem Wohnraum und Selbstbestimmung kämpften und auf der anderen eine gut ausgebildete und bewaffnete sowie (von allen) bezahlte Polizei-Armada, welche nicht gerade für ihre tolerante und soziale Gesinnung bekannt war und ist.

Mainzer Straße, Räumung und Festnahmen am 15.11.1990

Die Besetzer der Mainzer und die bürgerlichen Anwohner (größtenteils Ossis) kamen derzeit recht gut miteinander aus – man kannte und half sich auch zuweilen. Die Anwohner kamen zur preiswerten Volxküche, diskutierten mit Hausbesetzern über politische Themen und verschenkten Kleidung und Möbel an diese. Wie auch immer. Schließlich fuhren wir, die wir noch nicht genug hatten, abends mit dem ‚Hausbus‘ wieder zur Mainzer und machten die Nacht zum Tage. Mittlerweile bestand die Barrikade zur Frankfurter Allee aus Baugerüststangen und allerlei schweren, sperrigen Objekten, weil direkt auf dieser Ecke ein Haus saniert wurde und reichlich Baumaterial vorhanden war. Sie war ca. 8-10m breit, etwa 2m hoch und es gab einen Durchschlupf, an welchem ein Kinderwagen noch gut hindurchpasste. Vor der Barrikade war ein großes Loch ausgehoben, in dem ein Räumpanzer sofort steckengeblieben und unbrauchbar gemacht worden wäre. Auf dem Baugerüst waren vermummte Werfer postiert, die sich von unten den Nachschub an Mollis etc. hinauf reichen ließen. Einmal fiel ich in die ausgehobene Grube vor der großen Barrikade zur Frankfurter Allee, weil ich mich in meiner Überhitzung nicht rechtzeitig vor dem Räumpanzer in Sicherheit brachte. Dieser Räumpanzer drohte dann für einige Augenblicke in die Grube zu kippen, in der ich lag und ich war eine Zeit lang von seinem Scheinwerferlicht geblendet, aber dann fuhr er schließlich wieder zurück.      (gekürzt)

Quellenangabe : Bilder zur Mainzer Straße – Räumung und genaue Zeitangaben sind aus „Die Chronologie der Mainzer Straße“ – ohne V.i.S.d.P. oder andere Legitimationsmerkmale. Außerdem „Die Räumung der Mainzer Straße“ bei Wikipedia und https://gentrificationblog.wordpress.com/2010/11/14/berlin-20-jahre-raumung-der-mainzer-strase/ sowie mein Gedächtnisprotokoll. Des Weiteren http://www.spiegel.de/video/vor-20-jahren-hausbesetzer-in-der-mainzer-strasse-video-1060145.html . Man beachte bei diesem Video den besonnenen Einsatzleiter, der seinen Beamten verzweifelt Zurückhaltung befiehlt – ebenso wie die Meinungen der damaligen Anwohner, Politiker und Besetzer.